Dem Fluss das Fürchten lehren

5. Portrait von Eva-Lena Lörzer

Als Kind hatte Hussein Maher großen Respekt vor dem Fluss neben seinem Haus. Er schwor sich, schwimmen zu lernen und dem Fluss Respekt einzuflössen.

Danach gefragt, wie er zum Schwimmen gekommen sei, erzählt Hussein Maher, der von allen nur Titu genannt wird, die Geschichte vom Fluss Al Khabur in seiner  syrischen Heimatstadt Al Hasaka: „Der hat mir als kleiner Junge großen Respekt eingeflößt, weil ich Jahr für Jahr erlebt habe, wie im Sommer Ertrunkene an Land gezogen wurden." Als er aber circa 12 Jahre alt war, so erzählt er, habe er sich geschworen, dem Fluss zu zeigen, dass er keine Angst vor ihm habe. „Ich habe mich vor ihn gestellt und gerufen: 'Ich werde schwimmen lernen und wiederkommen und du wirst Respekt vor mir haben'!'“

Hussein Maher brachte sich selber das Schwimmen bei und begann sich mit 19 in einem lokalen Verein zum Rettungsschwimmer ausbilden zu lassen. Knappe zehn Jahre trainierte er in dem kleinen Club, in den Sommermonaten arbeitete er als Rettungschwimmer und Ausbilder für Rettungsschwimmer: „Damals war es normal, dass Menschen ertranken, weil sie nicht schwimmen konnten. Viele Schwimmbäder mussten schließen, weil sie keine Rettungsschwimmer hatten.“ Nach zwanzig Jahren, erzählt der 50-Jährige, kannten ihn alle in seiner Stadt nur noch als Titu den Retter.

Während Hussein Maher erzählt, lachen die anderen Teilnehmer des Ausbildungsprojektes. Die sechs hatten bis eben Deutschunterricht, jetzt machen sie eine Essenspause und haben sich ein Buffet mit arabischen Spezialitäten und Kuchen aufgebaut. Er versteht nicht, was die anderen lustig finden. „Doch wirklich, wenn du nach Al Hasaka kommst, frag nach Titu. Alle kennen mich“, sagt er zu Mohamad, der am lautesten lacht. Der schneidet eine Grimasse: „Klar, ich glaube sofort, dass dich alle 1,5 Einwohner kennen.“

Man merkt: Maher gilt bei den fünf anderen als Spaßvogel. Dass er aber auch eine ernste Seite hat, zeigt sich, als er über seine Flucht redet. „Die Situation in Al Hasaka war einfach nur noch unerträglich: kein Strom, kein Wasser, ständig Schießereien. Ein Teil der Stadt war kurdisch, der andere Teil von der Armee Assads besetzt. Dreieinhalb Jahre waren wir unter Beschuss, alle hatten Angst, schwimmen zu gehen, die Schwimmbäder machten zu, ich war arbeitslos.“ Da einer seiner Brüder seit 22 Jahren in Berlin lebte und seine Mutter auf eigene Kosten mit einer Bürgschaft bereits zu sich geholt hatte, beschloss der Kurde, zu den beiden zu fliehen.

Nach seiner geglückten Flucht meldete er sich in Deutschland zunächst in Baden-Württemberg an, weil er gehört hatte, dass die Bearbeitung der Asylanträge dort deutlich schneller gehe als in Berlin. Tatsächlich bekam er bereits nach drei Monaten eine Aufenthaltsgenehmigung. Er zückt seinen Personalausweis und zeigt stolz auf die Meldeadresse: Villingen-Schwenningen. „Da war es schön“, sagt er und fügt nachdenklich hinzu: „Aber meine Mutter war alleine.“ Sein Bruder hatte neben seiner Arbeit wenig Zeit, sich um sie zu kümmern. „Er ist in seiner langen Zeit hier sehr deutsch geworden“, sagt er und fügt hinzu: „Nicht vom Charakter, aber vom Lebenswandel: Er arbeitet nur noch.“

Mittlerweile lebt Hussein Maher mit seiner Mutter zusammen im Haus seines Bruders. Er macht sich Sorgen um sie: „Sie ist 65 und hat große Beschwerden an den Beinen. Für eine syrische Frau ist 65 ein hohes Alter. Meine Mutter hat ihr ganzes Leben sehr hart gearbeitet.“ Hier fühlt sie sich sehr isoliert: Sie spricht die Sprache nicht und hat nichts zu tun. Ihr einen Deutschkurs zu finanzieren, können sich die Brüder nicht leisten, die Ämter, erzählt er, übernähmen keine Kosten, weil seine Mutter über seinen Bruder gekommen sei.

„Mein Bruder kümmert sich auch: Er geht mit ihr zu Ämtern, zum Arzt oder einkaufen. Sonst aber hat er nie Zeit. Wenn er vorbeikommt, dann meist für eine halbe Stunde, telefonisch erreichen kann man ihn nie.“ Von der Sorge um seine Mutter abgesehen aber ist er mit allem zufrieden: „Ich vermisse meine Freunde und meine Schwestern, Cousins und Onkel. Und natürlich den Fluss“, sagt er mit einem breiten Grinsen. „Aber für den Moment geht es allen in meiner Familie in Syrien zumindest okay. Und ich bin glücklich hier. Ich hoffe, bald Arbeit zu haben. Und die richtige Frau zu finden.“